Kalte Stille by Wulf Dorn

Kalte Stille by Wulf Dorn

Autor:Wulf Dorn
Die sprache: de
Format: mobi, epub
ISBN: 3453266862
Herausgeber: Heyne Verlag
veröffentlicht: 2010-08-23T22:00:00+00:00


Nathalie sah ihre Mutter. Sie kniete vor dem Heizkörper unter dem Fenster, und Nathalie sah, dass sie mit Handschellen daran gefesselt war. Bis auf die zerrissene Strumpfhose war ihre Mutter nackt, und man konnte zahlreiche Striemen und blaue Flecke auf ihrem Rücken erkennen.

Das alles war schon grässlich anzusehen, aber am meisten erschrak Nathalie vor den beiden Männern, die bei ihrer Mutter waren. Auch sie waren nackt. Nur ihre Gesichter waren durch Ledermasken verborgen.

Im ersten Augenblick war Nathalie vor Schreck wie starr. Sie sah noch, wie einer der Männer ihrer Mutter ins Gesicht schlug, während der andere hinter ihr auf dem Boden kniete und durch seine Maske keuchte. Dann bemerkte der Schläger das Kind.

Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte Grabesstille, ehe Nathalie ein leises »Mama?« zustande brachte.

Der Schläger schrie sie an, sie solle verschwinden, und der zweite Mann glotzte sie nur stumm an.

Noch immer vor Schreck wie gelähmt, sah Nathalie in das Gesicht ihrer Mutter. Sie hatte sich zu ihrer Tochter umgesehen, und Nathalie fiel ein dünnes rotes Rinnsal auf, das ihr aus dem Mundwinkel lief.

Nathalie wollte irgendetwas tun. Schreien. Zu ihrer Mutter laufen. Sie vor diesen Monstern beschützen. Oder aus dem Zimmer rennen. Aber sie konnte nicht. Alles, was sie konnte, war dazustehen und auf das Unbegreifliche zu starren.

Und dann lächelte ihre Mutter ihr zu. Sie musste Schmerzen haben, aber dennoch lächelte sie. Es war dieses ganz besondere Lächeln, das aus tiefstem Herzen zu kommen schien und das sagte: Alles ist in Ordnung.

»Sei brav, Prinzessin, und geh draußen spielen«, sagte sie schließlich, und ihre Stimme klang so weich und sanft wie schon lange nicht mehr.

»Unglaublich!«

Jan lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah zur Decke.

»Ihre Mutter hat später mit ihr darüber gesprochen«, sagte Carla. »Sie muss versucht haben, ihr zu erklären, dass es ihr gefällt, sich verprügeln und vergewaltigen zu lassen. Aber erklär mal einer Achtjährigen, was nicht einmal einem normal denkenden Erwachsenen einleuchten will.«

»Deshalb also ihre Angst vor Männern«, sagte Jan. »Sie muss als Kind geglaubt haben, das sei die normale Art von Geschlechtsverkehr, und ist innerlich nicht mehr von dieser Vorstellung losgekommen.«

»Natürlich hat sie später gewusst, dass nicht alle Kerle so drauf sind«, sagte Carla, »aber sie hat sich einfach nicht getraut, sich auf eine sexuelle Beziehung einzulassen. Die Angst hing an ihr fest wie eine Klette, und ich habe wirklich alles versucht, um ihr zu helfen, Jan. Sie ist dem Thema ausgewichen, sobald man es nur ansprach. Manchmal hat da schon ein zweideutiger Witz ausgereicht.«

»Sie nannte diese Angst ihren ›Dämon‹«, fügte Ralf hinzu. In seinen Augen schimmerten Tränen. »Irgendwann hat sie es mir erzählt. Sie wolle mich nicht verlieren, hat sie gesagt, aber sie konnte einfach nicht mit mir schlafen.«

»Und wie bist du damit umgegangen?«

»Ich … ich habe ihr gesagt, dass ich immer zu ihr stehen werde und dass ich warten kann, bis sie es auch will. Wenn’s hätte sein müssen, hätte ich mein ganzes Leben drauf gewartet. Ich hab sie doch geliebt.« Er begann zu weinen.

»Dann ist sie also dir zuliebe in die Therapie gegangen?«, fragte Jan.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.